Städte und Siedlungen widerstandsfähig und nachhaltig gestalten - Aktionswoche „Die Glorreichen 17 im Landkreis Kitzingen“

147 - 18.08.2021

Städte und Siedlungen widerstandsfähig und nachhaltig gestalten - Aktionen zum nachhaltigen Umgang mit der Fläche für Dörfer und Städte in der Aktionswoche „Die Glorreichen 17 im Landkreis Kitzingen“

Würzburg (ruf) – Siedlungen und Straßen nehmen immer mehr Fläche ein, die meisten Städte und Dörfer haben sich um ein Vielfaches vergrößert. Die Einwohnerzahlen dagegen haben sich wenig verändert. Und immer noch scheint die Nachfrage nach Grundstücken ungebremst und fast unerfüllbar.

Flächeneffizientes Bauen trägt zum Klimaschutz bei
„Für viele vor allem ländliche Gemeinden in Unterfranken lässt sich auf Basis der amtlichen, demographischen Prognosen ein Bedarf für neue Wohnraumausweisung kaum ableiten“, sagt Anne Weiß, Flächensparmanagerin an der Regierung von Unterfranken. Sie und ihre Kollegin Marina Klein haben die Aufgabe, Maßnahmen der Flächensparoffensive Bayern im Raum Unterfranken umzusetzen. Dazu gehören unter anderem die Sensibilisierung und Vernetzung kommunaler Akteure und Fachleute durch Veranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Flächeninanspruchnahme, die Prüfung des Bedarfsnachweises in der Bauleitplanung, die Verbreitung von Best-Practice und der Austausch mit Gemeinden und regionalen Initiativen. Digitale Informationsplattformen, die auf Landesebene neu aufgebaut wurden, sind das FörderNavi, die Infomail sowie die Best-Practice-Sammlung.
Mechthild Engert ist Landschaftsarchitektin und berät als Kreisfachberaterin am Landratsamt Kitzingen Kommunen, Vereine und Bürgerinnen und Bürger zur nachhaltigen Ortsentwicklung, auch im Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“. „Fläche vermehrt sich nicht“, sagt Engert. Wenn Obst- und Ackerflächen bebaut werden, fehlen diese Flächen für den Anbau von Lebensmitteln. Lebensräume für Tiere und Pflanzen der freien Landschaft gehen verloren. Die Versiegelung des Bodens verändert das Klima vor Ort, Niederschläge fließen schneller ab, Siedlungen heizen sich stärker auf. Wie wir wohnen, bauen und uns fortbewegen ist selber ein wesentlicher Baustein für den Klimaschutz. „Um Landschaft und Klima zu schützen, gilt es, im Vorhandenen leistungsfähiger zu bauen statt nur überall mehr.“ Im Rahmen der Aktionswoche „Die Glorreichen 17 im Landkreis Kitzingen“, die sich um die Ziele der nachhaltigen Entwicklung der Vereinten Nationen drehte, stellten die Regierung von Unterfranken und der Landkreis Kitzingen mögliche Lösungen im Rahmen zweier Online-Veranstaltungen und einem Spaziergang durch den Iphöfer Stadtteil Hellmitzheim vor.

Verdeckter Leerstand
Aber wie passen gleichbleibende Einwohnerzahlen und die große Nachfrage nach Bauland in der Region zusammen? Stadtplaner Bertram Wegner hat untersucht, welche Möglichkeiten zur Innenentwicklung sich in Gerbrunn bieten. Viele erschlossene Grundstücke sind nur locker bebaut, es gibt einige Baulücken. Von „verdecktem Leerstand“ sprechen die Ortsplaner im Fall einer Unternutzung von Wohngebäuden. Diese findet typischerweise statt, wenn ältere Personen in großen Wohneinheiten verbleiben, nachdem die junge Generation ausgezogen ist. In Gerbrunn gibt es einen Vorrat von 165 Potenzialflächen im Bestand, so die Analyse. Aus der Erhebung der Potentiale folgt eine Innenentwicklungsstrategie, die als Grundlage der künftigen Entwicklung der Gemeinde dient. „Wenn Sie heute Innenentwicklungskonzepte erarbeiten, Leerstand und Baulücken abfragen und kartieren, nützt Ihnen das morgen für viele weitere Planungen.“, betont Wegner.

Wie dem „verdecktem Leerstand“ begegnet werden kann, ist das Thema von Tanja Kenkmann vom Öko-Institut e.V. aus Freiburg. Im Landkreis Steinfurt (NRW) wurde im Rahmen des Modellvorhabens „LebensRäume“ getestet, wie vorhandene Gebäude effizienter genutzt werden können. Ziele des Projekts waren, Wohnraum für die Bedürfnisse aller Lebensphasen zu bieten, dabei Kosten für alle Beteiligten zu sparen und energieeffizient zu bauen. Kenkmann erläuterte, dass viele Menschen Unterstützung bei der Wohnraumsuche und -gestaltung brauchen. Im Projekt wurde daher ein Vorgehen zur bedarfsgerechten Beratung entwickelt. Infobroschüren zur Vermietung ungenutzter Räume, zu Wohnen für Hilfe, Wohnungsteilung und Umbau und zum gemeinschaftlichen Wohnen unterstützen die Beratung und geben gute Werkzeuge an die Hand. Attraktive Alternativen, etwa zum zu groß gewordenen Einfamilienhaus, müssen bereits vorhanden sein. Für viele Bürgerinnen und Bürger sei beispielsweise wichtig, am Ort bleiben sowie einen Garten oder eine Terrasse nutzen zu können.

Neue Wohnformen auf dem Land
Hans-Jörg Birner, Bürgermeister der 3.400 Einwohner-Gemeinde Kirchanschöring im Landkreis Traunstein, hat ähnliche Erfahrungen gesammelt. Nachdem die Gemeinde das „Haus der Begegnung“, mit Sozialbüro und Beratungsstelle für alle Bürger, Gemeinschaftsräumen für Veranstaltungen und 19 Appartements und Wohnungen für Senioren sowie eine Arztpraxis geplant und gebaut hatte, wurden plötzlich einige Wohnhäuser frei. Kirchanschöring ist die erste Gemeinde in Deutschland, die ihre eigene Bilanz vollständig nach den Prinzipien der Initiative Gemeinwohl-Ökonomie erstellt. Im landschaftlich reizvollen Voralpenland im Einzugsgebiet von Salzburg gelegen ist Bauland begehrt und teuer. Birner erklärte, dass viele Einheimische es sich kaum noch leisten können ein Haus zu bauen. Um Wohnraum erschwinglich zu halten, habe sich die Gemeinde entschlossen, neue Wohnformen zu ermöglichen.
Architektin und Stadtplanerin Prof. Nadja Häupl hat Kirchanschöring im Modellvorhaben „Anders Wohnen“ begleitet. Bürger wurden nach ihren Wünschen befragt. Die Siedlungsentwicklung seit den 1950er Jahren wurde untersucht, seitdem steigt die Siedlungsfläche pro Einwohner stark an. Die Grünzüge und Grünverbindungen im Ortsgefüge, auch landwirtschaftliche Flächen und Hofstellen geben Kirchanschöring sein Gesicht. Also sahen sich die Kirchanschöringer nach Alternativen zum Einfamilienhausgebiet um. Man reiste in den Bregenzer Wald, besuchte herausragende Beispiele und sprach mit Gemeindevertretern, Planern und Bewohnern.
Nadja Häupl und ihre Kollegen zeigten, wie sich der Ort entwickeln wird, wenn wie gewohnt Fläche nur mit Einzelhäusern bebaut wird. Dagegen planten sie eine dichtere Bebauung, die weniger als die Hälfte an Boden benötigt. Kompaktes Bauen ist günstiger für die Gemeinde und die Bewohner. Es können verschiedene Wohntypen für unterschiedliche Lebensphasen angeboten werden. Die Bauweise ist wirtschaftlich und nachhaltig. Die Gemeinde ist teilweise selber Bauherrin, Grundstücke werden an Baugruppen vermittelt. Derzeit wird eine Online-Plattform entwickelt, über die Grundstücke und Objekte und die Menschen vor Ort zusammengebracht werden können. Die Bürger übernehmen eigene Verantwortung, bezahlbaren Wohnraum in gehobener Baukultur zu schaffen.

Herausforderungen in Mainfranken
Auch Ludwig Weigand weiß aus Erfahrung, dass es Geduld und Vertrauen braucht, den Weg der Ortsentwicklung gemeinsam mit allen Beteiligten zu gehen. Die Stadt Iphofen mit der malerischen Altstadt und ihren landwirtschaftlich geprägten Stadtteilen verfolgt seit über 30 Jahren konsequent die Sanierung und Stärkung der historischen Ortskerne. In einem Spaziergang durch den 400-Einwohner Stadtteil Hellmitzheim erläuterten der stellvertretende Bürgermeister Hans Brummer und sein Vorgänger Ludwig Weigand, welche Ziele bei der Entwicklung des Dorfes verfolgt werden und was bislang erreicht wurde. Schon in den frühen 1990er Jahren wurde ein Entwicklungskonzept beschlossen, das auch festhält, welche Landschaftsräume von Bebauung freigehalten werden, wie etwa das Tal des Kirchbachs. Gemeinschaftliche Einrichtungen wie Kindergarten, Feuerwehrhaus, Sportheim und Bürgerhaus sind in der Ortsmitte konzentriert. So wurden Baulücken geschlossen und Schafscheune, Gemeinschaftsgefrieranlage und ein denkmalgeschütztes Bauernhaus weiter und neu genutzt. In Scheunen und Ställen sind Handwerksbetriebe eingezogen. Landwirtschaftliche Betriebe errichteten, angeregt und unterstützt von der Stadt, Stallgebäude außerhalb der Ortslage. Die wirtschaftliche Entwicklung der Betriebe und das Leben im Dorf werden gleichermaßen gesichert. Die Ortslage bleibt frei von Immissionen, leerstehende oder wenig genutzte Gebäude können auch für Wohnen entwickelt werden. Bauwillige werden im Laufe der Entscheidungs- und Bauphase kostenlos von erfahrenen Stadtplanern beraten. Alle drei Jahre werden besonders gelungene Bauten im Stadtgebiet ausgezeichnet. Freilich gibt es auch leerstehende oder wenig genutzte Gebäude im Dorf. Die Kommune kauft Baulücken und Leerstände oft auf, um sie städtebaulich abgestimmt, auch sozial verträglich zu entwickeln. Wie aufwändig und auch langwierig Innenentwicklung ist, wurde im Spaziergang deutlich. Doch alle Mühen lohnen sich, wie die Besucher in Hellmitzheim erleben konnten.

Anlage: 2 Fotos (Fotos: Anne Weiß, Regierung von Unterfranken)

Foto: Flüchtlingswohnhaus; Bildunterschrift:
Dem alten Jägerhaus in Hellmitzheim drohte der Einsturz. Es stand lange Zeit leer. Durch Mittel der Städtebauförderung konnte es 2017 saniert werden und dient nun Geflüchteten als Wohnraum.

Foto; Karpfenweiher und Streuobstwiese; Bildunterschrift:
Karpfenweiher und Streuobstwiese zeigen, wie erhaltenswert Freiflächen am Ortsrand sind. Ein Scheunenkonzept soll für die sinnvolle Nachnutzung leerstehender Landwirtschaftsgebäude sorgen (Bildhintergrund).

Hinweis: Wer mehr zu Flächensparen und Innenentwicklung lesen möchte, findet anschauliche Informationen auf der Website der Regierung von Unterfranken unter:
https://www.regierung.unterfranken.bayern.de/aufgaben/177666/177670/eigene_leistung/el_00219/index.html

Broschüre Neue Wohnkonzepte in Kirchanschöring (pdf, 9,5 MB):
https://www.stmelf.bayern.de/mam/cms01/landentwicklung/dokumentationen/dateien/anders_wohnen_kirchanschoering_bf.pdf

Informationen mit Handreichungen zur Beratung, Projekt Wider den „verdeckten Leerstand“ im Landkreis Steinfurt, Öko-Institut e.V.: https://www.oeko.de/forschung-beratung/projekte/pr-details/kommunen-innovativ-lebensraeume